Critical State, Governance and Globalization Studies

Governance wurde in der Politikwissenschaft zu einer Metapher für neue politische Steuerungs-, Entscheidungs- und Partizipationsformen. Benannt wird damit auch die Auffächerung dieser veränderten Formen politischer Steuerung entlang verschiedener räumlicher Maßstabsebenen (etwa als Regional oder Global Governance). Die Forschungsgruppe „Critical State, Governance and Globalization Studies“ leistet einen Beitrag zur kritischen Governance-Forschung im Kontext der Transformation von Staatlichkeit. Die etablierten Formen demokratischer Repräsentation, die wesentlich an den Nationalstaat gebunden waren, werden unterlaufen. Daher werden die jüngsten Transformationen von vielen Menschen als undemokratisch und von Eliten gesteuert empfunden.
 
Schwerpunkte sind die gesellschaftstheoretisch informierte Überprüfung von Governance-Ansätzen sowie die empirische Analyse von Governance-Prozessen und der Regulierungen verschiedener sozialer Verhältnisse und in unterschiedlichen Politikfeldern (sowie deren Verbindungen) wie beispielsweise Arbeits- und Geschlechterregime, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Umwelt- und Ressourcenpolitik.

Die Arbeit der Forschungsgruppe ist in der kritischen Staats- und Gesellschaftstheorie verortet. Wir arbeiten mit einem erweiterten Staatsverständnis, das auch Raum und Akteur*innen der Zivilgesellschaft sowie die Formen sozio-ökonomischer (Re-)Produktion umfasst. Dabei greifen wir insbesondere auf staatstheoretische Ansätze zurück, wie die Staatstheorie von Nicos Poulantzas, die Hegemonietheorie von Antonio Gramsci und die Gouvernementalitätsstudien von Michel Foucault. In den Projekten der Forschungsgruppe werden sowohl die makro- als auch mikropolitischen Dimensionen unterschiedlicher sozialer Verhältnisse im Staat herausgearbeitet. Besonderes Augenmerk gilt der Analyse multipler Ungleichheitsregime.

Einen Schwerpunkt der Forschungsgruppe bilden Untersuchungen der Veränderung von Geschlechterverhältnissen. Diese werden im Kontext von ökonomischer Globalisierung und politischer Internationalisierung sowie Theoriedebatten um Intersektionalität multipler Ungleichheitsstrukturen gesehen. Einerseits werden vergeschlechtlichte Strukturen des Staates in empirischen Studien untersucht, andererseits werden die Zusammenhänge von Staat und vergeschlechtlichten sowie sexualisierten Subjektkonstitutionsprozessen analysiert. Das politikwissenschaftliche Nachdenken über Geschlecht als politische und politikwissenschaftliche Kategorie hat über die Politisierung der Geschlechterdifferenz durch soziale Bewegungen, über Demokratie und Differenz, aber auch über Gleichstellungspolitiken auf nationaler wie internationaler Ebene wichtige politikwissenschaftliche Diskussionen angeregt.
 
Ein anderer Schwerpunkt liegt auf der kritischen Analyse der Globalisierung im umfassenderen Sinn. Der unscharfe Begriff der Globalisierung zeigt einen epochalen gesellschaftlichen Umbruch an, der in den 1970er Jahren begann und nach 1989 an Dynamik gewann. Dabei handelt es sich um ökonomische, politische und kulturelle Entwicklungen, die von Regierungen, Unternehmen, Medien und anderen Akteur*innen vorangetrieben werden und die sich nicht nur auf internationaler oder transnationaler Ebene vollziehen. Die Globalisierung durchdringt die einzelnen Gesellschaften und wird durch eine Vielzahl von ökonomischen, politischen und kulturellen Alltagspraxen geschaffen. Vielfältige gesellschaftliche Strukturen und Wertvorstellungen werden verändert: Die Klassen- und Geschlechterverhältnisse, die Strukturierung entlang ethnischer Kriterien, die Naturverhältnisse, die Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung und der Konkurrenz, Öffentlichkeit – und insbesondere verändern sich Staat und Politik und entsprechend die Modi von Governance.

Die genannten Prozesse prägen sich dabei in verschiedenen geographischen Räumen unterschiedlich aus und entwickeln ihre eigene spezifische Dynamik. Bedingt durch die anderen historischen und strukturellen Bedingungen artikulieren sie sich im globalen Süden teilweise in anderen Formen oder andere Aspekte von Governance, wie etwa rassialisierte oder koloniale Verhältnisse und Steuerungsmechanismen gewinnen an Bedeutung. Auch stellt die Analyse „peripherer“ Gesellschaft die Governance-Forschung vor die permanente Herausforderung ihre Theorien und Konzepte auf deren Verallgemeinerungsfähigkeit und Erklärungspotenzial in anderen Kontexten hin zu befragen. Die Forschungsgruppe fokussiert hierbei auf die Regionen Südostasien und Lateinamerika.

In der Forschungsgruppe werden die Ursachen, Dynamiken und Auswirkungen der Transformationen der letzten Jahrzehnte aus historischer Perspektive, theoriegeleitet und in einzelnen Feldern empirisch erforscht. Diese Veränderungen werden nicht als „Sachzwang” verstanden, sondern als gesellschaftlich umkämpfte Ergebnisse von Interessen und Strategien spezifischer Akteur*innen und als in den einzelnen Bereichen ungleicher Prozess, der von Macht- und Herrschaftsverhältnissen geprägt ist.

Ziel der Forschungsgruppe ist es, Modernisierungen, Transformationen und Tradierungen in unterschiedlichen sozialen Verhältnissen sichtbar zu machen und die entsprechenden staats- und gesellschaftstheoretischen Debatten weiterzuentwickeln. Zudem wird die Tatsache untersucht, dass die jüngsten weltweiten gesellschaftlichen Veränderungen politisch kaum stabilisiert werden können, sondern Krisen und Legitimationsdefizite zunehmen. Dennoch gibt es Formen der (staatlich-politischen) Problembearbeitung. Deren Entstehung, Wirkungen und Grenzen werden erforscht.

Leitung:

Univ.-Prof. Dipl.-Bw. Dr. Ulrich Brand, Institut für Politikwissenschaft